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Was ein Organist so alles erleben kann

Als Mitglied eines Knabenchores »durfte« ich ausnahmsweise schon im zarten Alter von zwölf Jahren im Gemischten Chor unserer Kirchengemeinde mitsingen; das war normalerweise erst nach der Konfirmation/Einsegnung möglich und erlaubt.

Dass der Chor bei einer Zeltevangelisation singt und sich täglich einbringt, war damals noch selbstverständlich. Am ersten Abend, wir waren fast vollzählig versammelt, stellte der Zeltevangelist fest, dass er keinen Begleiter am Harmonium hatte und bat unseren Dirigenten, doch die Begleitung zu übernehmen. Dieser wollte so ungeübt nicht an die Sache herangehen und sagte kurzerhand zu mir: »Das machst du jetzt.« Schließlich hatte ich ja schon fast zwei Jahre Unterricht.

Nach der Versammlung wurde allgemein festgestellt, dass ich eigentlich jeden Abend spielen dürfte, doch da hatte der am ersten Abend nicht anwesende Organist etwas dagegen und so blieb es bei dem einen, ersten Auftritt. In der Gemeinde durfte ich dann aber die Sonntagschule begleiten. Wir hatten schon eine Orgel und so brauchte ich ja nur noch das dafür nötige Pedalspiel erlernen.

Mein Musiklehrer in der Schule, ein erfahrener Kantor bestellte mich dann jeden Samstagnachmittag in die Stadtkirche. So gegen 14.00 Uhr bereitete er sich auf der großen Orgel auf den sonntäglichen Gottesdienst vor und zeigte mir dabei und das ging manchesmal bis 17.00 oder 18.00 Uhr, wie man eine Gemeinde richtig begleitet. In gut einem Jahr hatten wir das ganze alte Choralbuch durchgearbeitet.

Leider wurde mein geliebter Lehrer für mich viel zu früh in den Ruhestand versetzt, da eine neue Organistin die Stelle bekam. Ich musste für viel Geld Unterricht nehmen, durfte an der gemeindeeigenen Orgel nur noch zu bestimmten Zeiten üben und sollte statt der von mir bevorzugten Stücke von J. S. Bach und Buxtehude nun Bornefeld und Reda üben.

Das ging zum Glück allerdings nicht sehr lange, so quasi über Nacht war unsere Organistin weg und ich wurde »befördert«, nun sonntäglich zu spielen. Eine junge Frau begann in dieser Zeit ebenfalls Orgelunterricht zu nehmen und so konnten wir uns nach einiger Zeit ablösen.

Natürlich hatten wir strenge Vorschriften zu beachten, das Vorspiel sollte mindestens eine Minute, aber nicht länger als zwei Minuten dauern. Für die Erlebnisse, die sich die Gottesdienstbesucher noch schnell erzählen wollten, war es aber immer zu kurz. In dieser Zeit hätte ich ein tolles Kochbuch mit den verschiedensten Rezepten schreiben können, oder Kurzgeschichten über Vorgänge in und um die Gemeinde.

Noch besser war es um das Nachspiel bestellt. Beim ersten Ton erhoben sich die Besucher und unterhielten sich über mehrere Bänke hinweg und waren auch mit einer Mixtur oder Zimbel nicht zu stoppen. Was tun? Eigentlich wollte ich keine Kaffeehausmusik machen, aber die Werke meiner Lieblingskomponisten waren einfach zu schade. Also übte ich »An der schönen blauen Donau« und ein Nachspiel für mehrere Wochen war fertig. Nach vier Wochen stellte mich der Gemeindeälteste zur Rede, was das für ein verrücktes Nachspiel wäre, das ich immer spielen würde. Meine Bemerkung, dass die Leute jetzt doch viel beschwingter aus der Kirche kommen, ließ er nicht gelten und es wurde weiter »gegangen und geredet«.

Als ich in einer neuen Gemeinde vor dem gleichen Problem stand, aber inzwischen mehr Mut hatte, mein immer noch ehrenamtliches Engagement zu verteidigen und dem Pastor erklärte, dass der Gottesdienst eigentlich mit dem Vorspiel beginnen und mit dem Nachspiel erst enden würde, rannte ich keine offenen Türen ein. Mein Versuch, das Vorspiel mit Generalpausen zu unterbrechen, schlug auch fehl, zumal ich dabei nicht die Frage stellte, ob mein Spielen sehr die Unterhaltung stört.

Dann probierte ich es mit Humor und spielte Bläserstücke meines Freundes und Lehrers Herbert Beuerle. Da kam dann im Bass auf einmal »Alle Vögel sind schon da« oder ähnliche Motive. Aber auch das hatte keinen durchschlagenden Erfolg. Eine Ausnahme gab es nur, wenn ich eine Flötistin oder einen Trompeter verpflichten und begleiteten konnte, dann war Ruhe und meist auch noch Applaus.

Erst als der Pastor auf meine Bitten versuchte, vor dem Gottesdienst selbst die Gemeinde zur Ruhe zu bringen und er minutenlang gar nicht beachtet wurde, konnte er meine Argumente nachvollziehen.

Inzwischen begrüßen unsere Liturgen die Gottesdienstbesucher und sagen an, was der/die Organist/in spielt. Jetzt stellt die Gemeinde fest, dass da ja bekannte Choräle und Chorlieder vorkommen, dass da verschiedene Motive wie »Wir pflügen und wir streuen« und »Der fröhliche Landmann« miteinander verknüpft sind. Sogar Thema und Variationen zu »Geh aus, mein Herz, und suche Freud« oder »Weil Gott in tiefster Nacht erschienen« oder »Auf Seele Gott zu loben«, um nur einige zu nennen, sind dabei. Nun kann ich auch wagen, das Lied »Der Gottesdienst soll fröhlich sein« mit entsprechenden Zwischenrufen aus Lob- und Volksliedern zu spielen und die Frage zu stellen: »Wer hat was erkannt?«.

Als Erkenntnis bleibt: Der Gottesdienst beginnt und endet mit dem Vor- und Nachspiel, doch nur, wenn die Gemeinde entsprechend informiert wird und die Gemeindeleitung es so will.

19.03.2013/RS

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