
Interview: Singen in Zeiten von Corona
Zum Sonntag Kantate veröffentlicht die EmK-Zeitschrift unterwegs ein Interview mit Bundeskantor Christoph Zschunke (CZ) und Bundesgeschäftsführer Thomas Kraft (TK). Wir drucken hier eine ausführlichere Fassung des Interviews ab. Die Fragen stellte Pastor Michael Putzke (Kassel).
Wie hat die Corona-Pandemie die Arbeit des Christlichen Sängerbundes verändert?
CZ: Der CS muss sich seit über einem Jahr in ´pandemischer Zurückhaltung´ üben. Die Chöre können nicht wie gewohnt proben, fast alle Veranstaltungen sind abgesagt. Unsere hauptamtlichen ChorleiterInnen bleiben zu Hause, anstatt zu den Chören in die Regionen zu fahren. Die eigentliche Arbeit ruht. Das macht uns traurig und auch etwas ratlos. Denn in den Chören und Gemeinden besteht die Gefahr, dass diese verordnete Pause zu größeren Verlusten führt.
TK: In dieser Zeit ist es sehr schwierig, Veranstaltungen zu planen. In der Geschäftsstelle sind wir viel damit beschäftigt, die Absagen und Stornierungen zu managen bzw. Termine zu verschieben und dabei den Kontakt zu den Partnern aufrecht zu erhalten. Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind in Kurzarbeit in unterschiedlichem Umfang. Wir hoffen, dass wir im Herbst wieder mit einer geregelten Chorarbeit beginnen können. Erst dann wird sich wirklich zeigen, wie die Chöre vor Ort durch diese Zeit gekommen sind. Der Neubeginn wird sicher besondere Energie und Sorgfalt erfordern.
Singen ist ein Ausdruck des christlichen Glaubens. Leider dürfen die Gemeinden in Gottesdiensten zurzeit nicht singen. Was gibt es für Ideen, wie man trotzdem Lieder in Gottesdienste einbringen kann?
TK: Wenn Präsenzgottesdienste heute unter ausgefeilten Hygienekonzepten stattfinden, erklingen Lieder meist durch das Vorsingen Einzelner oder instrumental. Bei bekannten Melodien kann die Gemeinde wenigstens innerlich mitsingen und anteilnehmen.
Eine andere Möglichkeit ist, Chormusik durch Einspielungen in den Gottesdienst einzubringen. Dazu haben wir in den vergangenen Monaten sehr viele Anfragen erhalten. Die vielen CD-Produktionen des CS können dafür gerne genutzt werden. Hinweise dazu finden sich auf unserer Website. Ein besonders schönes Projekt hat der Chor Chornblume aus der OJK realisiert: Er hat bekannte und beliebte Gesangbuchlieder auf einer CD eingespielt, die unter dem Titel „Mein Mund besinge tausendfach“ erschienen ist.
CZ: Womöglich sind es aber auch die kleinen und familiären Gottesdienste zu Hause, die das Singen überhaupt noch ermöglichen. Dazu wollen wir ermuntern: „Singen Sie Zuhause! Singen Sie im Herzen! Aber bleiben Sie Singende! Singend zu sein, ist eine innere Haltung, wie wir durch die Welt gehen, mit einer Ausrichtung nach oben, zum Himmel.“ (Dr. Erik Dremel, Halle) Und bleiben Sie ebenso Hörende! Nicht Auf-hörende! Sondern besser Aufhorchende. „Hörendes Singen macht in jedem Fall wach und sensibel - auch für die Fragen, die durch Corona verstärkt an unseren Lebensstil und unsere Welt nachdrücklich gestellt werden.“ (LSW Mathias Gauer, Erfurt)
Was können Chöre in den Gemeinden tun, um das Singen in der Pandemie wach zu halten?
CZ: Manche Chöre nutzen Online-Formate (z.B. Zoom), um miteinander in Kontakt zu bleiben. In anderen Chören trifft man sich womöglich vor Ort mit kleinen Gruppen in großen Räumen, und singt dann zumindest live, mit großem Abstand und ggf. mit Maske und längeren Lüftungspausen. Es sind vor allem die gemeinschaftsfördernden und auch seelsorgerischen Aspekte, die solche Alternativen heute wertvoll machen und die Sehnsucht nach gemeinsamem Singen wachhalten. Emotional bleibt dies aber weit hinter Gewohntem zurück. Unsere SängerInnen sind doch darauf angewiesen, in engem Kontakt zu ihren jeweiligen Nachbarn die Stimmen zu erlernen und dabei zu wachsen. Es braucht neben stabilem Internet auch einen sehr langen Atem. Der fehlende direkte Kontakt untereinander bleibt ein leidvolles Erleben. Aber vielleicht führt die Zwangspause auch dazu, den Wert des gemeinsamen Singens neu zu entdecken.
TK: Entscheidend ist wohl, dass die Gemeinden in ihren Gottesdiensten die Möglichkeiten nutzen, die es trotz der Einschränkungen gibt. Schön ist, wenn die Gemeindelieder nicht nur von der Orgel gespielt werden, sondern auch Einzelne oder kleine Gruppen dazu singen. Dann erklingen auch die Texte. Oder dass neben der Gemeindeband auch eine kleine Chorgruppe im Gottesdienst singt. Das können einfache Choräle oder Chorsätze sein. So gerät das Liedgut nicht ganz in Vergessenheit.
Ganz abgesehen von Corona: Wie sieht denn generell die Entwicklung der Chorarbeit aus? Welche Trends gibt es in der Chorarbeit?
CZ: Lange Zeit war die Chorarbeit wesentlicher Bestandteil der Gemeindearbeit. Chorisches Singen – egal in welcher Stilistik – war nicht nur Spiegel, sondern auch Multiplikator des Gemeindegesangs. Der CS als Chorwerk galt als Ansprechpartner für Kirchenmusik auch in der EmK. Dieses Bild hat sich in den letzten Jahren deutlich verändert. Die Zahl der Chöre hat stetig abgenommen und es stellt sich die Frage nach der Relevanz chorischer Arbeit. Dort, wo Chöre nach wie vor zum festen Bestandteil der Gemeindearbeit zählen, erleben wir viel Zuspruch und aktive Beteiligung an den Angeboten. Natürlich gibt es unüberhörbar eine Entwicklung hin zur Popmusik. Dafür machen wir mit unseren Singalong- und Ninive-Reihen Angebote, die sehr beliebt sind. Und auch für gemischte klassische Chöre sind z.B. die Bundesgaben und andere Ausgaben des CS weiter von Belang.
TK: Aber die Chöre in den Gemeinden selbst wachsen zahlenmäßig nur selten und werden insgesamt nicht jünger. Jungen Menschen in den Gemeinden sind heute andere musikalische Aktivitäten wichtig. Im CS wollen wir darum die chorische Arbeit besser mit Bands, Bläsern und dem Liedgut der ganzen Gemeinde kombinieren. Uns leitet der Gedanke „weniger Vortrag - mehr Impulse zum Mitmachen“.
CZ: Und der gemeinsame Lieder-Kanon in den Gemeinden ist schmaler geworden, trotz - oder gerade wegen der Flut an immer neuen Songs. Die Corona-Pandemie zeigt eindrücklich, wie wichtig gerade ein gemeinsames Repertoire der singenden Christenheit ist, das uns an Texten, Bildern und Musik in Form von gemeinsamen Liedern auch durch solch schwierige Zeiten der Entbehrung leiten kann. Nur und ausschließlich auf immer neue Lieder zu setzen, mag zwar einem bestimmten Marktsegment in der christlichen Musikszene weiterhin hohe Gewinne bescheren, trägt aber gerade nicht zu dieser notwendigen Repertoirebildung in den Gemeinden bei.
TK: Ein weiterer Trend, der sich langfristig bemerkbar macht, ist die Entwicklung hin von klassischen Gemeinde- zu Projektchören. Viele Sängerinnen und Sänger scheuen eine wöchentliche Probe und eine Verpflichtung, jeden Sonntag im Gottesdienst singen zu sollen. Auch bei den Chorleiterinnen und Chorleitern fehlt häufig der Nachwuchs – trotz regelmäßiger Schulungsangebote. Manche Chöre lösen sich daher als Gemeindechöre auf, kommen aber projektweise wieder zusammen. Das ist für die Gemeinden ein Verlust, auch wenn es natürlich schön ist, dass überhaupt noch gesungen wird.
Wie attraktiv ist die vierstimmige Chormusik heute? Übernehmen nicht immer mehr Bands die Aufgabe der Chöre?
TK: Es gibt ein gewisses Paradoxon: Chormusik erfreut sich heute großer Beliebtheit. Professionelle und semiprofessionelle Ensembles boomen. Zugleich tut sich die regelmäßige und über viele Jahrzehnte gewachsene Struktur der Gemeindechorarbeit sehr schwer. Sie profitiert nicht von der Entwicklung, die anderswo zu sehen ist. Eine Überraschung hat die Pandemie aber auch mit sich gebracht: Neben manchen Hilflosigkeiten bei Online-Angeboten war in vielen Fernseh- und Onlinegottesdiensten mehrstimmige Musik auf höchstem Niveau zu erleben. Das hat manche Menschen vielleicht auch wieder für diese Art des Musizierens begeistert.
Bands sind in vielen Gemeinden heute selbstverständlich. Viele davon machen tolle Musik, die unterschiedliche Generationen anspricht. Aber es scheint so zu sein, dass mit den Bands oder Lobpreis-Teams die Zahl der musikalisch wirklich Aktiven noch einmal abgenommen hat. Sie sind deutlich kleiner als die Chöre und oft genug profitiert der Gemeindesang zu wenig von ihnen.
CZ: In der Vergangenheit konnte man zumindest bei kirchlichen MitarbeiterInnen - ob ehrenamtlich oder angestellt tätig - generell von Singbiografien ausgehen. Es gab neben gemeinsamen Liedern auch ein Bewusstsein für die eigene Singstimme. Diese Zeit scheint vorbei. Und dennoch: „Musik ist bei jedem Menschen ein Teil seines Lebens. Sie beansprucht keinen eigenen, abgegrenzten Raum, sondern durchpulst alle (kirchlichen) Lebensäußerungen. Musik ist ein Ort der Erfahrung von Spiritualität, vor allem, wenn sie aus dem bloßen Konsum befreit und zum kreativen Mittun angeleitet wird.“ (LSW M. Gauer, Erfurt)
Singen war und ist die einfachste Form der Beteiligung am Lobpreis Gottes. Gut angeleitete aktive ChorsängerInnen finden mehrstimmige Chormusik natürlich attraktiv, eben weil sie sie tun! Ob aber das bloße Hören dieser Musik im Gottesdienst annähernd so attraktiv ist, steht auf einem anderen Blatt... Genauso verhält es sich bei den Musikgruppen und Bands in den Gemeinden. Allein ein stilistischer Wandel im gemeindlichen Singen und Musizieren - weg von Traditionellem, hin zu Populärem; weniger Chor, dafür mehr Bands - sagt noch nichts aus über die Nachhaltigkeit, Akzeptanz und Attraktivität. Der Schlüssel hierzu heißt ´Vermittlung´!
Wenn Singen uns im besten Sinne wieder ´anstecken´ darf, dann gelingt dies weniger als ´Vortrag´ eines Chores oder einer Lobpreisband. Es braucht mehr Formen von einladendem Mittun. Teilhabe und Partizipation erweitert auch die Grenzen der persönlichen Vorliebe für einen bestimmten Musikstil.
TK: Deshalb bieten wir verschiedene Formate von Schulungen an, sogar Seminar-Wochenenden für die ganze Gemeinde, damit am Schluss alle mitmachen und ein gemeinsamer Klang entsteht.
Welche Hilfen bietet der CS an, wenn Gemeinden ihre musikalische Arbeit beleben wollen?
CZ: Der CS ist eingebunden in ein Netzwerk aktiver (professioneller) MusikerInnen und MusikpädagogInnen und reagiert gern und konkret auf einzelne Anfragen aus den Gemeinden und Landesverbänden. Wir ermutigen die Gemeinden dazu, uns einzuladen! Das CS-Schulungspersonal ist stilistisch breit aufgestellt, sowohl im instrumentalen als auch vokalen Bereich. Daneben gibt es ein breites Angebot von regionalen Schulungen, Workshops und Singtagen, bei denen man sich Inspiration für die Arbeit in der Gemeinde holen kann.
Anfragen abseits der regulären Chorarbeit sind bisher eher selten. Das hängt sicher damit zusammen, dass der CS in den Gemeinden eben als ´Chor´-Verband wahrgenommen wird, darüber hinaus aber allein schon wegen der Terminologie etwas antiquiert daherkommt. Wer vermutet denn, dass der „Christliche Sängerbund e.V.“ heute auch Band-Coachings, Liederwerkstätten und Lobpreis-Workshops durchführt? Wir tun dies punktuell, und durchaus mit positiver Resonanz, aber diese Angebote gehören nicht zu unserem ´Kerngeschäft´. Es wäre schön, wenn diese Arbeit in Zusammenarbeit mit anderen Trägern ausgeweitet werden könnte.
TK: Die Zusammenarbeit mit anderen Trägern ist auch wichtig, weil wir gemerkt haben: als Chorwerk ist unser Radius beschränkt. In den Gemeinden passiert ja viel mehr als Chormusik. Aber Jugendbands und Lobpreisgruppen oder den theologischen Nachwuchs erreichen wir nicht über die Chöre, sondern z.B. über das Kinder- und Jugendwerk oder die Theologische Hochschule in Reutlingen. Wenn wir dort – gemeinsam mit den jeweiligen Partnern – Angebote machen, erreichen wir die Zielgruppen besser, als allein über unsere Mitgliedschöre.
CZ: Ja, aber vielleicht sind wir als CS damit auch etwas überfordert? Ich denke, wir sollten uns gemeinsam mit den Kirchen und Bildungsträgern NEU Gedanken machen, wie wir die Aus- und Weiterbildung unserer jungen MusikerInnen in den Gemeinden noch besser fördern können, auch hinsichtlich der Vermittlungskompetenzen. Wenn uns das gemeinsame Singen in den Gemeinden so viel bedeutet, müssen wir deutlich mehr in unsere aktiven MusikerInnen vor Ort investieren! Und warum sollten praktische Musikkurse und Gemeindesingen heute nicht auch fest zum Curriculum der Ausbildung der PastorInnen gehören? Sie sind und bleiben doch die mitunter wichtigsten Förderer einer breiten Musizierpraxis in den Gemeinden.
Was sind die Pläne des CS, wenn die Pandemie hoffentlich in naher Zukunft eingedämmt werden kann?
TK: Wichtig ist uns in erster Linie, dass die Chöre vor Ort wieder mit ihrem Dienst beginnen können. Dann soll neben den letzten Bundesgaben „Himmel ohne Grenzen“ auch unser neues Chorbuch zum Gottesdienst „So viel Leben“ in die Chöre und Gemeinden gebracht werden. Darin sind eine Vielzahl von Arrangements und Modellen gemeinsamen Musizierens im Sinne eines ‚Baukastensystems’ exemplarisch beschrieben und laden zum Ausprobieren ein. Dazu haben wir einige Workshops geplant, bei denen ChorleiterInnen sich methodisch Anregungen holen können.
CZ: „Was sind wir doch, was haben wir…?“ Ich selbst kann doch als Chorleiter und Kirchenmusiker nichts ausrichten, ohne die aktiven Sängerinnen und Sänger und die lebendigen Gottesdienste in den Gemeinden. Darum können wir es kaum erwarten, endlich die vielen ausgefallenen Termine nachzuholen und neu zu planen.
Aber auch das Gespräch darüber, welche Musik die Gemeinden für die Zukunft brauchen, muss in noch größerer Breite geführt werden, damit wir unserer Sehnsucht wieder nachgehen können: unserem Gott zu singen!